Weihnachtsgeschichte

 

 

 

Als mir die Birgit Lang vom Intelligenzblatt eine Email schickte und mich um eine Geschichte für die Weihnachtsausgabe bat, fiel mir eine alte kitschige Postkarte ein - und eine passende Weihnachtsgeschichte dazu.

Isen im Dezember 2015

 

 

Die Christbäume vom Staatsforst

 

Die Geschichte handelt in einer Zeit, die noch gar nicht so lange her ist, aber unendlich weit weg erscheint. In einer Zeit, die nicht friedlicher war als die heutige, aber die Hoffnung der Menschen auf Frieden größer, wo Gutmütigkeit noch einen Wert hatte und Bescheidenheit eine Zier war. In einer Zeit, wo Geduld belohnt wurde und - man sich noch Postkarten schrieb. Genau eine solche bekam unser Ignatz zu seinem 70. Geburtstag und die löste in dem rüstigen Alten vom Seiler-Hof etwas aus, was sich die Leute heute noch nach 60 Jahren gerne erzählen. Der Absender war seine Kathie, die einst Magd auf dem Hof war und nach dem 1. Weltkrieg wegziehen musste. Wer weiß, ob nicht ein Paar aus beiden geworden wäre. Vielleicht war Ignatz auch wegen ihr ledig geblieben. Das Motiv auf der Karte war eigentlich kitschig und zeigte Tiere im Wald, die staunend um einen beleuchteten Christbaum herumstanden.

Aber es vereinte alles, was dem Ignatz wichtig und wertvoll war. Sein Lebtag arbeitete er am liebsten im Wald. Obwohl er nur Knecht war, kümmerte er sich um die Bäume, als wären sie die eigenen. Er kannte jeden Winkel im Gehölz und wusste genau, wie viele Rehe, wie viele Füchse, wie viele Hasen es gerade gab und welche Wege sie gingen. Auch den benachbarten Staatsforst kannte er wie seine Westentasche. Ihm war auch nicht verborgen geblieben, dass gerade jetzt kurz vor Weihnachten wieder viele Familienväter aus dem Dorf unterwegs waren, um sich einen kleinen Tannenbaum für den Heiligen Abend zu sichern. So etwas als Diebstahl zu bezeichnen, wäre dem Ignatz nie in den Sinn gekommen. Ein gescheiter Wald verträgt so was schon, dachte er immer. Aber nicht jeder sah das so. Der junge Förster vom Staatsforst war geradezu mit kriminalistischem Eifer dahinter, dass sein Jungholz verschont blieb. Wenn er jemanden auf frischer Tat ertappte, gab es nicht nur eine deftige Strafzahlung, sondern auch eine polizeiliche Anzeige. So etwas missfiel dem Ignatz ganz und gar. Als er wieder einmal in seiner Kammer saß, die ihm der Bauer mit geschriebenem Wohnrecht gönnte, und seinem vorweihnachtlichem Hobby, dem Strohsterne-Basteln nachging, kam ihm die Idee. Die Karte von seiner Kathie war ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Also bastelte er viele besonders große und raffinierte Strohkunstwerke, wickelte sie in Zeitungspapier und packte alles vorsichtig in seinen Rucksack. Damit machte er sich nachts auf den Weg in den Staatsforst. Neben jeder Lücke im Jungholz, die ihm verdächtig nach „Christbaum-Ernte“ schien, schmückte er das nächst gelegene Bäumchen mit seinen Strohsternen. Zum Glück hatte er viele gebastelt, denn er musste insgesamt zehnmal Christkind spielen. Es war eine sternenklare Nacht und im Mondschein hatte das Stroh einen magischen Glanz. Schmunzelnd stellte sich Ignatz das Gesicht des Försters vor, wenn dieser am nächsten Tag sein Jungholz begutachtete. Die Wirkung blieb nicht aus und sie muss eine besondere gewesen sein. Denn eine Anzeige wegen Baumdiebstahls gab es von da an nicht mehr. Ob sich diese ungewöhnliche Geschichte wirklich zugetragen hat, ist einerlei, aber es könnte genauso gewesen sein.

(Albert Zimmerer, 2015)

 

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